Die analoge Seele im digitalen Zeitalter
Verändert das digitale Zeitalter unser Gehirn, unsere
Wahrnehmungsfähigkeit, unser
soziales Verhalten, unsere Seele?
Welche
Folgen hat der intensive Umgang mit Computern für unser Gehirn?
Diese bisher
vor allem von besorgten Eltern gestellte Frage beschäftigt jetzt
auch zunehmend
die Neurobiologie und Psychologie.
Verändert
das Leben im digitalen Zeitalter die neuronale Verdrahtung des Gehirns?
Einige
Wissenschaftler sind überzeugt, dass der regelmäßige
Aufenthalt im Netz die Art
und Weise beeinflussen könnte, wie wir lesen, lernen und
miteinander umgehen.
Photo:
© 2007 delta RA'i
Wenn
das Gehirn mehr Zeit mit der Bedienung technischer Systeme verbringt,
so lautet
die These des Psychologen Gary Small von der Universität Los
Angeles (UCLA),
dann geraten grundlegende soziale Fähigkeiten in den Hintergrund -
etwa die
Fähigkeit, im persönlichen Gespräch den Gesichtsausdruck
des Gegenübers zu
deuten.
Die an
der Face-to-Face-Kommunikation beteiligten Nervenleitungen könnten
bei
ständiger digitaler Beschäftigung schwächer werden,
erklärt Small. Die mögliche
Folge seien soziale Unbeholfenheit, eine Unfähigkeit zur Deutung
nonverbaler
Botschaften, steigende Isolierung, nachlassende Empathiefähigkeit
und
menschliche Gefühllosigkeit.
Es wird
vermutet, dass die Wirkung am stärksten bei Personen ist, die
jetzt zwischen 20
und 30 Jahre alt sind und die bereits seit ihrer Kindheit mit dem
Computer
vertraut sind. Wissenschaftler nennen sie „digital natives“ (digitale
Eingeborene) - im Unterschied zu den „digital immigrants“, die ihre
Kindheit
und Jugend noch in rein analogen Zusammenhängen verbracht haben
und als
„digitale Zuwanderer“ erst in einem späteren Lebensabschnitt mit
den
Möglichkeiten des Computers vertraut geworden sind.
Was die
Wissenschaft im Gehirn zu lokalisieren sucht, ist für andere zu
einer Krankheit
der Seele geworden.
Noch
sind wir Menschen, aus Fleisch und Blut, absolut analog.
Und unsere Seele, unsere innerste
Wesenheit, die uns Angerührt-worden-sein, Ergriffen-sein und
Berührt-sein
lassen kann, ist eben auch „nur“ analog.
Es ist
grandios aber auch erschreckend, was unser Geist erschaffen hat und wie
der
menschliche Schöpfungsdrang die universelle Schöpfung als
Geisel zu nehmen
versucht. Seit ca. 50 Jahren hat
sich ein merkwürdiges Phänomen in unserer Welt breit gemacht:
die
Denaturierung. Früher hat eine
Tomate noch nach Tomate geschmeckt, ein Apfel nach Apfel und die Milch
ist nach
wenigen Tagen sauer geworden.
In der
Natur unserer Lebensmittel ist kaum mehr Natur drin, sondern eher
Antibiotika
(anti = gegen + Bios = Leben).
Die
Seele der Menschen und deren Mittel zum Leben scheinen sehr krank zu
sein, wenn
nicht schon gestorben...
Photo: © 2007 delta RA'i
Unserer
Geist ist besessen vom biblischen „Auftrag“, uns die Erde untertan zu
machen
und wir leiten daraus das Recht ab, die Natur auszubeuten und zu
„verbessern“,
auch unsere eigene Natur, unsere Seele. Wir sind immer mehr gestresst,
laufen irgendwelchen Idealen nach und
damit vor uns selbst weg. Wie
anders kann man sich sonst 72 Std. Schichten bei Krankenhausärzten
oder die
unzähligen Castingshows erklären? Unsere Seele leidet unter
einem immensen Defizit an analog gefühlter
Welt und den darin mitfühlenden Mitmenschen.
Wir
umgeben uns massenhaft mit unseren geistig-technischen
Errungenschaften, vom
iPhone bis zur Atombombe aber wie es unserem Nachbarn oder Partner in
der Seele
wirklich geht oder was Ihm fehlt, davon haben wir keine Ahnung.
Was
braucht unsere Seele, um in solch einer vergeistigten und ausgebeuteten
(Um)Welt zu überleben?
Wie könnte
Tanz helfen, uns wieder in den Reigen der natürlichen Abläufe
zu integrieren?
Tanz
oder Yoga, Kunst oder Musik sind originär etwas analoges, etwas
was unsere
Seele verstehen kann, da sie hier mit Bildern gefüttert werden
kann, die sie
tief im innersten bewegen, anrühren und ergreifen kann.
Tanz
könnte zumindest ein Schlüssel sein, mit dem das
verschlossene Schatzkästchen
in uns wieder geöffnet werden könnte, um unserer Seele ein
wenig analoge
menschliche Stärkung zukommen zu lassen.
eX...it!´11 ist eine künstlerische
Annäherung an neue Denkansätze zur Überwindung der
tiefen Identitätskrise, der
zunehmenden seelischen Defizite und sozialen Verwerfungen in denen wir
uns seit
dem letzten Jahrhundert befinden. Durch dekadentes Wohlstandsdenken und
geistigem Überflug in gefühlter
virtuellen Allmacht verarmen unsere seelischen Wurzeln. Die rapide
technische Entwicklung des
20. Jahrhunderts hat uns zwar schon auf die Oberfläche des Monds
gebracht -
aber auch erst an den Rand des Abgrunds eines nuklearen Krieges und
dann dank
der immer stärker werdenden Globalisierung an eine
ökologische und soziale
Katastrophenschwelle.
Haben
wir noch alles im Griff? Wo
bleiben eine Kultur des Miteinanders, neue Werte und Entwicklungen der
zivilisatorischen Substanz unserer Gesellschaft?
Wo versteckt sich unsere Seele? Oder haben wir keine (mehr)???
Warum
eine immer intensivere Suche nach dem ultimativen Kick neuer Extreme?
Langweilt
uns das „normale“, analoge, allseits abgesicherte Leben immer mehr?
Haben wir schon alles gesehen, alles
erlebt, wenn auch das meiste nur
virtuell, digital?
Dabei bleibt
die körperliche Erfahrung oft aus und wir suchen immer wieder das
Sensationelle, um unsere analoge Existenz spüren zu können.
Doch
wohin führen diese zunehmenden Kräfte exzentrischer Gier und
Zerstörungswut?
eX...it!´11 lädt ein mittels modernem
Ausdruckstanz, speziell japanischem Butoh-Tanz, dem Werdegang des
globalen
Zeitgeists und der Gefangennahme der Weltenseele in der Unterwelt
(HADES) nach
zu gehen.
eX...it!´11
will Fragen
stellen und versuchen in tänzerischen Bildern analoge Antworten
und Ausblicke
anzureißen.
eX...it!´11 hat zur inhaltlichen Aufgabe
für die geladenen ChoreographInnen, mittels eines eX...-Begriffs
(eXchange it!
• eXpress it! • eXpect it! • eXplore it! • eXamine it! • eXhale it! •
eX... it!) einen künstlerischen Beitrag zur Problematik der
Seelenverkümmerung und den
oben angedeuteten Fragen zu gestalten.
Dabei
sollen sich jeweils zwei ChoreographInnen verbinden und verbünden,
um gemeinsam
aus den unterschiedlichen Blickwinkeln ihrer individuellen Tanzstile
miteinander an einer Choreographie für
die Abschußpräsentation zu arbeiten.
Tanz als T(r)anzformation...
delta RA'i, November 2010