Symposium



Gregor Weber
(Moderation des Symposiums)
Gregor Weber studierte bei Anzu Furukawa und arbeitet heute als Tänzer, Choreograph und Regisseur für Theater, Workshop-Projekte und Events.
Er ist Gründer der Gruppe G.W.pulpennah.

Gilles Kennedy
Gilles Kennedy is Autorin und Journalistin verschiedener Bücher und Artikel über Performing Arts, speziell Tanz und hier insbesondere Butoh.
Akiko Tachiki
Tanzkritikerin und Journalistin
Lebt und arbeitet in Japan und schreibt für japanische Magazine, aber auch als Japan-Korrespondentin für europäische Magazine, wie z.B. "Ballet Tanz".
Multimoderne Tanzentwicklung – Der Fall Butoh
Text: Rolf Elberfeld
Der Export des europäischen Kunstsystems in die verschiedensten Länder der Erde ist ein zentrales Beispiel, um die Frage nach verschiedenen Modernen zu konkretisieren. Es gibt nicht nur rund um den Globus verschiedene Symphonieorchester, sondern auch Galerien für „moderne“ Malerei, die sich jeweils an den Standards in Europa oder den USA orientieren. Dabei ist jedoch die Aufnahme der europäischen Musik und Malerei in Japan anders verlaufen als in Indien, in Nigeria anders als in Indonesien, in Brasilien anders als in Ägypten. In allen Ländern, die jeweils eine eigene Tradition der Künste besessen haben, sind inzwischen Neuverbindungen entstanden, die das Profil der jeweiligen Moderne mitgestalten.
Im Rahmen verschiedener Künste können wir beobachten, wie das aus Europa Importierte auf die jeweiligen Traditionen trifft und dort Verschiedenes auslöst. Die Wirkungen reichen von der radikalen Verdrängung, Wiederentdeckung, und Neuaneignung älterer Traditionen bis zur Schaffung neuer Synthesen, die sich weder eindeutig auf eine ältere Kultur noch einfach auf Europäisches zurückführen und reduzieren lassen. Zudem läßt sich beobachten, daß sowohl europäische wie auch traditionelle Kunstauffassungen ungestört nebeneinander existieren können und somit das System der Künste selbst erheblich erweitert und modifiziert wird. Vor diesem Hintergrund kann die Frage nach den Künsten und ihrer Interpretation im Rahmen der Multimodernität nicht mehr nur von Europa ausgehen. Es müssen zumindest ansatzweise die Vorstellungen von den Künsten in älteren Traditionen in den Blick gebracht werden, um die multimoderne Neuordnung und -ausrichtung der Künste in den verschiedenen Modernen zu thematisieren.

Durch die weltweite Ausbreitung des europäischen Kunstsystems im Rahmen kolonialer Eroberungen, verbreiteten sich auch europäische Formen des Tanzes und seine Aufführungspraktiken in verschiedenen Kulturen und Modernen. In Reaktion darauf und in Absetzung dazu entstanden neue Formen des Tanzes wie das Butoh in Japan. Diese modernen Tanzformen in verschiedenen außereuropäischen Modernen zeichnen sich häufig dadurch aus, daß in ihnen aus der Tradition überlieferte Bewegungen neu überformt wurden und daraus eigenständige moderne Entwicklungen des Tanzes resultieren. In diesen Entwicklungen ist zu beobachten, daß die Leiblichkeit als symbolische Form grundsätzlich in verschiedenkultureller Perspektive thematisiert wird. Ähnlich wie der moderne Tanz in Europa und den USA aus einer reflexiven Reaktion auf ältere europäische und außereuropäische Bewegungsformen entstanden ist, so wurde und wird in Japan, Taiwan, China, Indien, Senegal, Brasilien und in vielen anderen Modernen – zumeist im Zusammenhang mit den europäischen und US-amerikanischen Entwicklungen –, die jeweils eigene Tradition auf neue und moderne Weise angeeignet. Die aus diesem Prozeß entstandenen Tanzmodernen lassen sich nicht mehr nach dem Schema Tradition auf der einen und europäische Moderne auf der anderen Seite verstehen, wie vor allem das Beispiel Butoh immer wieder zeigt. Für den modernen Tanz bedeutet dies, daß die jeweils ältere kulturelle Tradition der in Frage stehenden Moderne studiert werden muß, um die Tanzentwicklung der jeweiligen Moderne zu erschließen. In jeder Moderne steht auch die Leiblichkeit als symbolische Form auf dem Hintergrund der älterer Bewegungskulturen der eigenen Tradition, der importierten Bewegungsformen und der Rezeption der eigenen Entwicklungen in anderen Modernen in grundsätzlicher Weise zur Disposition. Es geht dabei jeweils um den Gesamtzusammenhang von Mensch, Menschen, Dingen und Welt. Ohne einfach in ein relativistisches Schema zu verfallen, entwickeln sich so verschiedene Weisen der Wirklichkeitsformung, die sich nicht auf ein Grundschema reduzieren lassen, sondern Wirklichkeit jeweils in eigener Weise auf der Ebene des Leibes zugänglich machen.

(Vgl.: Rolf Elberfeld, Multimodernität. Vielheit der Modernen und die Freiheit der Künste, in: Positionen. Beiträge zur neuen Musik, Themenheft „Migration“, 63:2005, 2-10)